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„Geschichte wird im Raum erfahren“: Widerstandshandeln gegen den Nationalsozialismus von regionalen Orten und Räumen abhängig

  • DSKOS
  • 2. Okt. 2024
  • 4 Min. Lesezeit


Auf Einladung des Denkstättenkuratoriums NS-Dokumentation Oberschwaben beleuchtete die Mannheimer Historikerin Prof. Dr. Angela Borgstedt bei einem Vortragsabend in der PH Weingarten am Montag, den 23.09., die Frage nach der Rolle geographischer und sozialer Räume in Bezug auf den Widerstand gegen das NS-Regime.


Anhand regionaler Beispiele aus dem Südwesten unternahm die Mannheimer Historikerin eine historiographische Neuvermessung des Widerstandes gegen das NS-Regime. Galt in den Geschichtswissenschaften bisher die Kategorie der „Zeit“ bzw. „die Sequenz der Ereignisse“ als zentrale Kategorie zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus, erhob Borgstedt den „Ort“ der Geschehnisse als zentrale Größe ihres Vortrags. Die Bedeutung des Ortes verdeutlichte die Historikerin zunächst in dem erfolgreichen Versuch der Nationalsozialisten während der Machtergreifungsphase, sich den öffentlichen Raum anzueignen. Flaggen, Banner, Parolen und Führerportraits wurden zur Machtdemonstration an öffentlichen Gebäuden angebracht, Andersdenkende wurden isoliert. Uwe Hertrampf, Vorsitzender des DSKOS, verwies dabei auf die Etablierung des NS-Regimes in Weingarten und deren Auswirkung auf die Stadt als öffentlicher Raum: Die Machtergreifung nahm 1922 mit der Gründung der ältesten NSDAP-Ortsgruppe ihren Anfang und gipfelte in der Reichstagswahl am 5. März 1933 in einem Stimmenanteil von 45,2% für die NSDAP. Die Folgen: Gleichschaltung des Gemeinderats, Verfolgung von Kommunisten und Sozialdemokraten in der Öffentlichkeit, zahlreiche Umbenennungen von Straßennamen und der Verlust der kommunalen Eigenständigkeit der Stadt Weingarten. Wer also Widerstand gegen den totalitären Herrschaftsanspruch des Nationalsozialismus leisten wollte, habe nicht nur Kenntnis der lokalen Topographie benötigt, sondern musste die Möglichkeiten, die die eingeschränkten Orte und Räume noch boten, in die Planungen seines Handelns einbeziehen, so Borgstedt. Wo öffentliche Versammlungsräume wie Vereinsheime oder Wirtshäuser geschlossen oder überwacht wurden, dienten vor allem halböffentliche und private Raume als Orte des Widerstandes. In der Natur beispielsweise ließen sich konspirative Treffen als Ausflüge tarnen. Die Historikerin verwies auf einen gut dokumentierten Fall von Zeugen Jehovas am Bodensee, die ihre verbotene Mission an der Haustüre als Radausflug einer größeren Gruppe tarnte und sich unterwegs teilte. Auch die Privatwohnung konnte zum Ort des Widerstehens werden, wenn diese zentrale Voraussetzungen zur Geheimhaltung erfüllte und zum Beispiel nicht zu hellhörig war. Eine bürgerliche Wohnung mit eigenem Arbeits- und Herrenzimmer war daher eher für Widerstandszwecke geeignet als der klassische Arbeiterhaushalt. Borgstedt illustrierte dies am vielleicht bekanntesten Beispiel des Heidelberger Teekränzchens Marianne Webers, der Witwe des Sozialwissenschaftlers Max Webers, die einen seit 1911 bestehenden Sonntagskreis zum „Austausch“ in ihrer Villa am Neckarufer fortführte. Als besonderer, da immer auch halböffentlicher Wohnraum, verwies die Referentin auf das Pfarrhaus, das zwar als ein „Haus mit gläsernen Wänden“ zu bezeichnen ist, aber zugleich Anlaufstelle für Verfolgte war. Die Häuser von Theologen der „württembergischen Pfarrhauskette“ beispielsweise nahmen zahlreiche namentlich bekannte Jüdinnen und Juden auf. Eine Solidarität mit Verfolgten galt seinerzeit als Widerstandshandeln. Besonders gut sei der Fall des Ehepaars Kurt und Ines Krakauer dokumentiert, das 1943 vor der drohenden Deportation aus Berlin in den Südwesten floh und in ca. 40 Pfarrhäusern und Privatwohnungen Zuflucht fanden. Weiterhin boten Arbeitsplätze wie Werkbank, Ladentheke oder Büro eine Reihe von Optionen, sich nonkonform zu verhalten. Gerade Handlungsreisende konnten ihre Mobilität oftmals unbemerkt in den Dienst des Widerstandes stellen und so zum Beispiel illegale politische Schriften verbreiten. Hertrampf verwies auf den kommunistischen Kurzwarenhändler Joachim Brunner, der von 1912-1943 in Weingarten in der Wilhelmstraße 30 lebte und wo diesem heute ein Stolperstein gewidmet ist. Mit seinem Motorrad bereiste er das ganze Oberland, um Arbeitskleidung zu verkaufen und politische Nachrichten zu verbreiten. Im September 1943 wurde er im Cafe Haimayer gegenüber der heutigen Linse aufgrund kommunistischer Kontakte und wegen „Schwarzhörens“ von Feindsendern verhaftet und kam letztlich im KZ Mauthausen um. Schließlich erfüllte auch das Ausland jenseits der Grenzen eines totalitären Regimes die Funktion eines Zufluchtsortes, so auch der Südwesten mit seiner einzigen, auch nach 1940 noch bstehenden Grenze an die neutrale Schweiz. Die Region bot Raum für politisch Verfolgte, Jüdinnen und Juden, entwichenen Zwangsarbeitern oder Wehrmachtsdeserteueren. „Fast täglich kamen Flüchtlinge. Man hat immer wieder gestaunt, wie gut sie den Weg in die Schweiz gefunden haben“, zitierte Borgstedt eine Grenzanrainerin im Kanton Basel-Landschaft. Die meisten versuchten den Rhein schwimmend oder, wo die Grenze im Rhein oder Bodensee verlief, im Fähr- oder Linienschiffsverkehr zu überqueren. Im Rückgriff auf zentrale Orte der Widerstandshistorie, wie die Wolfsschanze beim Stauffenberg-Attentat, der Münchner Bürgerbräukeller beim Elser-Anschlag oder der Lichthof des Münchner Universitätshaupthauses bei der Flugblattaktion der „Weißen Rose“, zog Borgstedt das Fazit, dass Räume und Orte von den Widerständlern mitbedacht worden seien und daher keine beliebigen Tatorte waren, sondern Einfluss auf den Ausgang der Widerstandsaktion hatten. Freilich könne der Ort nicht die Bereitschaft Einzelner zum Widerstand erklären, aber waren teil des Kalküls. „Geschichte wird im Raum erfahren. Die Geschichtsschreibung kann an Tiefendimension gewinnen, wenn sie sich darauf einlässt, diesen räumlichen Gegebenheiten stärker als bisher zu bedenken“, so die Historikerin. Nicht zuletzt ist der Vortragsabend, der von „Demokratie Leben!“ und der LpB Baden-Württemberg unterstützt und von den Musikern von „FREEdy&Friends“ umrahmt wurde, für die regionale Erinnerungskultur von hohem Wert: Rund 80 Gedenkorte sind es, die das DSKOS als Verbund an oberschwäbischen Erinnerungswegen vereint. Diese geben den Unterdrückten und Verfolgten durch das NS-Regime den „Raum“ der Würde zurück, die ihnen einst genommen wurde.

 
 
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