Bad Waldsee
Leutnant Jochen Kroll aus Dessau berichtet über „Die letzten Kämpfe von Waldsee, …“ aus seiner Sichtweise.
Der Bericht wurde von Joachim Strasser aus Bad Waldsee aufbewahrt und nun zur Verfügung gestellt.
„In der Nacht vom 22. Zum 23. April 1945 rückt die Front an Waldsee bedenklich heran: Der Gegner ist zwischen Ehingen und Riedlingen über die Donau vorgestoßen, er ist in Saulgau eingedrungen und geht von Westen her auf Aulendorf und von Norden auf Biberach los.
In dieser Nacht fahren die Wagen ohne Pause durch die Straßen von Waldsee, die Verpflegungslager werden mehr geplündert als geräumt. Soldaten marschieren durch die Stadt, und die Gerüchte lassen die allzu sehr auf Ruhe und Ergebung bedachten Bürger ebenso wenig zur Ruhe, wie das Geräusch der durchfahrenden Kolonnen.
Dann, am Morgen wächst unter den Einwohnern die Erregung: Das Bataillon 358, geführt von Major Volk liegt in Waldsee und nun taucht die Frage auf, wird die Stadt verteidigt oder nicht. Aufläufe, Kundgebungen vor dem Rathaus und dem Amtsgericht, in dem der Stab des Bataillons liegt, fordern das Nichtschließen der Panzersperren, verlangen kampflose Übergabe. Die weißen Fahnen sind bereit und in den Häusern brennen vor den Marien- und Christusbildern geweihte Kerzen, um gleichfalls die kampflose Übergabe von einer höheren Macht als der eines Bataillonkommandeurs zu erflehen.
Zwei Leutnants, die der erregten Menschenmenge ihr feiges und erbärmliches Verhalten vorwerfen, werden vor dem Rathaus niedergeschlagen und niedergetreten. Parole ist Frieden um jeden Preis, Rettung der Häuser vor Brand und Vernichtung. Erhalt der persönlichen Habe und Erwartung der endlich kommenden Befreiung. Beredtes Zeugnis für den von der Propaganda verkündeten Siegeswillen und einmütig – fanatischen Kampf aller Deutschen bis zu Äußersten.
Das Bataillon wird nun in der Stadtschule und im Amtsgericht zusammengezogen, die Nacht verläuft ruhig. Die Bürger, von ihren Heldentaten etwas ernüchtert, erwarten in Angst und Schrecken ein nächtliches Strafgericht.
Das bleibt ihnen freilich erspart. Auf Grund der traurigen Vorkommnisse vor dem Rathaus wird zwar von höherer Stelle befohlen, die männlichen Einwohner zu erschießen und die Stadt niederzubrennen; doch findet sich niemand, diesem Befehl nachzukommen.
Am 24. April werden die Panzersperren an den Hauptausgangsstraßen geschlossen und mit Offizieren besetzt. 1. Kompanie, geführt von Leutnant Hafner, sichert vor Waldsee in Richtung Biberach und Aulendorf, die zweite Kompanie unter Leutnant Bensing übernimmt die Sicherung in Richtung Reute, um Stadt und Bataillon vor Überraschungen zu schützen und um den Vormarsch des Feindes wenigstens aufzuhalten, da mit den unzureichenden Waffen und Soldaten an eine regelrechte Verteidigung der Stadt nicht gedacht werden kann.
Der Tag verläuft ruhig, in der Stadt beleibt das Gerücht, dass Waldsee nicht verteidigt werden wird. Nur die geschlossenen Panzersperren erwecken Misstrauen und Beunruhigung. Kundgebungen, Weihrauch und Gebete haben also geholfen – die Stadt wird nicht in Flammen aufgehen; die Bürger behalten Bett und Stuhl und für die Befreier stehen Wein und Cognac bereit.
Doch gegen 20 Uhr hört man in nicht allzu großer Entfernung Abschüsse von Panzerkanonen. Meldungen besagen, dass aus Richtung Aulendorf 4 Panzerkampfwagen auf Waldsee zu fahren. Und nun geht es schnell bei der einbrechenden Dunkelheit: Der Feind kommt von Norden her, Panzerabschüsse und Maschinengewehre verraten seinen Weg, mit der Stille ist es vorbei. Damit eine Umgehung der Stadt und des Bataillons vermieden wird, bezieht eine Kompanie des Bataillons 34 Stellung am Bahndamm im Norden der Stadt. Hierin wird auch der Gefechtsstand des Major Volk verlegt, führungsmäßig ist das Bataillon verstärkt durch eine Reihe junger und tatendurstiger Offiziere, die eben erst einen Vertiefungslehrgang unter Oberleutnant Töppe bestanden haben und für den Einsatz besonders geeignet sind. Die Männer werden eingewiesen, die Straßen werden gesichert, Panzerfäuste liegen bereit als Ersatz für schwere Waffen, in der Stadt liegen noch Panzerjagdkanonen und schließlich wird Verbindung mit den beiden vor Waldsee eingesetzten Kompanien aufgenommen.
Draußen vergehen die Stunden langsam. Es ist schon wieder still geworden, ein Haus brennt in der Stadt (Denzel/Stärk), dessen Feuerschein die beiden Kirchtürme und die Dächer scharf vom Himmel abhebt. . . .
Bei uns ist jetzt die Frage: Setzen wir in der Nacht noch ab, oder soll die Stellung gehalten werden? Auffallend ist die Haltung der Soldaten – Angst und Drang nach rückwärts! Angst vor den Panzern. Unkenntnis in der Handhabung der Panzerfaust und mangelnde Waffenkenntnis erklären wohl, aber doch nicht so, dann nun bei vielen eine absolut destruktive Haltung zu Tage tritt. Schuld daran ist neben mangelnder Ausbildung (manche sind noch keine Woche Soldat), dass der Krieg im eigenen Land das Militär und die Zivilbevölkerung enger zusammen bringt, als gut ist; und dass die Zivilisten bei der jetzigen allgemeinen Lage die Soldaten negativ beeinflussen. Gute Unterkünfte, Verkehr in den Häusern erwirken ein Nachlassen der Kampfkraft und mindern den Kampfgeist.
So kommt es, dass die Leute schon bei feindlichem Einzelfeuer den Kopf in den Sand stecken und nicht mehr hochnehmen. Es wird also abgesetzt. Morgens um 3 Uhr geht es über Haisterkirch und Haidgau nach Ziegelbach. . . .“
Kroll berichtet weiter: „. . . Es ist bekannt, dass Haisterkirch und Waldsee nur schwach vom Feind besetzt sind.
Man hat die bisherigen französischen Gefangenen bewaffnet und zum militärischen Schutz bestimmt, einige Kampfwagen stehen in Waldsee – auch regelrechtes Militär.
Hauptmann Seeth geht mit einem aus Freiwilligen gebildeten Panzer-Vernichtungstrupp in der Nacht auf Umwegen durch das Wurzacher Ried nach Waldsee. Ein Panzer wird vernichtet und ein weiterer angeknackt.
Übrigens . . . die Befreier zeigen sich in Waldsee von der besten Seite. Gewalttätigkeiten gegen Frauen seitens der Marokkaner, allgemeine Schikanen gegen die Zivilbevölkerung haben die Begeisterung etwas gedämpft. . . .“
Dieser Bericht von Leutnant Jochen Kroll belegt die Behauptung von Egon Strasser, dass das Haus Denzel/Stärk nicht durch französische Streitkräfte, sondern durch deutsche Soldaten in Auseinandersetzung mit der Stadtbevölkerung versehentlich in Brand geschossen wurde. Erwin Müller soll beteiligt gewesen sein, behauptet Egon.
Die Stadtbewohner hatten wohl kaum bemerkt, was sich am westlichen Stadtrand ereignete.
Siegfried Strasser erinnert sich :
Ein selbsternannter 7-er-Rat beschließt, um den Stadtkern von Waldsee zu schützen, die Kriegshandlungen an den westlichen Stadtrand zu verlagern. Mayor Volk will sich nicht französischen Truppen ergeben und plant einen schrittweisen Rückzug in Richtung Österreich, um in britische Kriegsgefangenschaft zu kommen.
Er lässt entlang der Dorfstraße Schützengräben ausheben, direkt vor dem Landhaus Strasser. Dort verschanzen sich die Truppen. Sohn Siegfried beobachtet dies als knapp 11-Jähriger vom Garten aus.
Es fliegt ein Aufklärungsflugzeug „Fieseler Storch“ über das Haus und über die deutschen Stellungen. Es war ein Aufklärungsflugzeug der Franzosen, die mit ihrer Artillerie nahe Haslanden Stellung bezogen hatten. Siegfried kennt diese Flugzeuge. Im Flur der befreundeten Familie Bachem hing ein solches Modell an der Decke.
Ein Offizier der deutschen Truppen forderte Emma Strasser, geb. Mann auf, das Haus sofort zu verlassen und einen Schutzraum aufzusuchen. Seine Worte waren: „Gleich geht’s los !“
Emma schnappte den Sohn Siegfried und flüchtete mit ihm in Richtung Stadt. Hinter Haus Aulendorfer Straße 28 befindet sich noch heute der Bierkeller des Gasthaus Traube, der damals als Schutzraum diente.
Dort angekommen sahen sie noch die ersten Einschüsse mit Schrapnell (Brandmunition) in ihr Haus, bevor sie sich in diesem Keller versteckten. Josef Duelli war Augenzeuge, wie das Haus mit nur einem MG in Brand geschossen wurde.
Familie Sproll im benachbarten Bauernhaus verbrachte diese Stunden im Mostkeller. Sie sahen wie das Strasser`sche Holzhaus bis auf die Grundmauern niederbrannte. Ihr eigenes Haus erhielt einige Einschüsse im West-Giebel, ebenso das Haus Becherer im Oberriedweg 31.
Auch Frau Hildegard Rummel berichtet, in den frühen Abendstunden des 24. April den hellen Feuerschein dieses Hauses gesehen zu haben. Sie wohnte damals als junges Mädchen im Haus Nüssle an der Reutestraße. Auch ihr Zimmer erhielt einen Einschuss, sodass sie in ein anderes Zimmer umziehen musste.
Am nächsten Morgen wurden die Waldseer Bürger von den französischen Soldaten aus ihren Verstecken getrieben. Die Anspannung dieser Soldaten war groß, sodass jede falsche Bewegung dazu führen konnte, erschossen zu werden.

Emma mit Sohn Siegfried sahen nun, dass alles, was sie besaßen ein Raub der Flammen geworden war. Keine Wohnung, keine Kleidung, weder Nahrung noch Geld war ihnen geblieben. Nur die Kleidung am Körper. Die Kaninchen im entfernten Stall wurden von den marokkanischen Soldaten mitgenommen. Ihnen blieb nur das Bild der Iphigenie und ein Schränkchen, welches im Stall der Familie Sproll untergestellt war.
Die ersten Nächte verbrachten Emma und Siegfried im Gartenhäuschen der Familie Sproll, bis ihnen ein Zimmer in der ehemaligen Wanderarbeitsstätte (heute Ernährungszentrum) zugewiesen wurde.
Erst Ende Oktober 1945 erfahren Emma und ihre Söhne, dass der Familienvater Franz an jenem 21. April 1945 in Breslau gefallen war.
Emma berichtet in den 1970er Jahren ihren Enkeln: „Euer Vater hot als Kind all g’heinet“.
Anlässlich des 80-jährigen Gedenken an das Kriegsende lädt der Heimat- und Museumsverein Zeitzeugen des sogenannten Todesmarsch von KZ-Häftlingen und den Einmarsch der französischen Truppen in Waldsee am 11. und 25.04.2025 zu Kaffee und Austausch der Erinnerungen.
Zuvor war es noch gelungen, durch Zeitzeugin Frau Huchler aus Aulendorf und Herr Karl Kranz aus Steinenberg sowohl die Wegstrecke des Todesmarsch vom 21. April 1945, wie auch den der anrückenden französischen Armee über Lippertsweiler, Michelwinnaden, Lenatweiler und Steinenberg nach Waldsee nachzuweisen.
Bisher waren die Forscher davon ausgegangen, dass diese Truppenbewegungen über Elchenreute stattgefunden hätten.
[1] Den Menschen in Süddeutschland war sehr wohl bekannt, dass die Vorhut der französischen Verbände mehrheitlich von marokkanischen Soldaten besetzt war. Diese waren für Ihre Brutalität und ihre Neigung zu Vergewaltigungen berüchtigt, besonders wenn sie Alkohol getrunken hatten. Daher wurden die Gaststätten aufgefordert, sämtlichen hochprozentigen Alkohol zu vernichten. Der im Hirschkeller gelagerte Cognac wurde in den Stadtsee geworfen. Die Stadtwirtschaft mauerte den Schnaps im Brauereikamin ein. Zu Zeiten vor der Währungsreform ging Stadtwirt Gossner mit dem Schnaps zu Landwirten und tauscht den gegen Lebensmittel ein.
[2] Frauen wurden im Oratiorium der Stiftskirche St. Peter versteckt. Der Zugang zum Oratorium ist so unscheinbar, dass selbst für Einheimische diesen nicht kennen. Erst als die marokkanischen Kampftruppen durch französische Soldaten ersetzt wurden, getrauten sich die Frauen wieder heraus.
Waldsee: Das Schicksal der Familie Strasser in der NS-Zeit
Joachim Strasser aus Bad Waldsee berichtet über seinen Großvater Franz Stasser, bezüglich seiner Schutzhaft wegen Verstoß gegen das Lebensmittel-bewirtschaftungsgesetz, seiner einjährigen Haft im KZ Welzheim und über das Schicksal der Großmutter und deren Kinder.
Franz Stassers Vater stammt aus Waldsee, lebt und arbeitet mit seiner Frau in St. Gallen, als Franz 1894 als drittes Kind dort geboren wurde.
Franz läßt sich nach dem Abitur bei einer Im- und Exportfirma zum Außenhandelskaufmann ausbilden. Er bringt hervorragende Voraussetzungen dafür mit, denn er spricht Französisch, Italienisch, Retromanisch, Schweizer-deutsch und akzentfrei Deutsch.
Zu Beginn des ersten Weltkrieges ermuntert ihn sein Onkel nach Deutschland
zurückzukehren, um das Vaterland zu verteidigen. Franz wird verwundet.
Nach Kriegsende wird er in das Wehrbereichskommando Biberach beordert und
wegen seiner Fremdsprachenkenntnisse damit beauftragt, ausländische Kriegsge-fangene in ihre Herkunftsländer zurückzuführen.

In Biberach lernt er Emma Mann aus Laupheim kennen. Nach der Eheschließung leben die beiden in Laupheim. Franz gründet einen Musikinstrumentenhandel. In diesem Bereich hat er gute Vorkenntnisse, denn er spielt sechs Musikinstrumente, darunter die Geige.
Anfang der 30er Jahre ziehen Franz und Emma mit ihrem Sohn Egon nach Aulendorf um. Dort wird der zweite Sohn Siegfried geboren. Emma betreibt dort ein Einzelhandels- und Kolonialwarengeschäft an der Saulgauer Straße, welche damals zur Adolf Hitlerstraße umbenannt war.
1933 tritt Franz in die NSDAP ein. Er ist überzeugt von sozialistischen Ideen.
Nun wird er Nationalsozialist. Sein Parteibuch trägt das Datum des 01.05.1933. Mitgliedsnummer 2004022. Zum Tag der Arbeit am 1. Mai hält er politische Reden in Aulendorf.

Im April 1940 werden polnische Kriegsgefangene vom Bahnhof Aulendorf aus auf der Saulgauer Straße zu Fuß in Richtung Saulgau getrieben, um bei Landwirten und bei Firma Bautz als Zwangsarbeiter zu dienen. Nach einem dreitägigen Transport im Viehwaggon - ohne Nahrung und Wasser – sind sie völlig entkräftet.
Emma Strasser verteilt Lebensmittel an diese Menschen. Eine Hausangestellte der Familie Strasser bringt diesen Vorgang zur Anzeige, denn seit 28. August 1939 dürfen Lebensmittel nur gegen Abgabe von Lebensmittelbezugsscheinen, den sog. Lebensmittelmarken, verkauft werden.
Franz übernimmt die Verantwortung für diese „Tat“, um seine Frau zu schützen.
Am frühen Morgen des 19. April 1940 stürmen bewaffnete Soldaten das Wohnhaus. Franz wird von der Gestapo festgenommen und um 13:00 Uhr im Landgerichtsgefängnis Ravensburg inhaftiert. Gefangenenbuch Nr. 288.
Grund der Verhaftung: „Vergehen über die Zwangsbewirtschaftung“. Entlassung am 25. April 1940 um 15:55 Uhr auf Anordnung der Staatsanwaltschaft – geheime Staatspolizei.

Die Familie kann sich in Aulendorf nicht mehr halten. Im Geschäft eines Häftlings kauft man doch nicht ein. Die Strasser-Familie zieht nach Waldsee um.
Verwandte in Ohio/USA schreiben 1940, dass die USA erwägen, in den Krieg einzutreten. Franz äußert sich danach im Kreise einer begrenzten Gesellschaft: „Sollte Amerika in den Krieg eintreten, so wird der Krieg für Deutschland verloren sein.“
Er wird denunziert und im Amtsgericht Waldsee zu einem Jahr Schutzhaft im KZ Welzheim bei Ulm verurteilt.
Welzheim ist bekannt für die Misshandlungen der Gefangenen. Augenzeugen berichten:
„Die Gefangenen wurden vom Auto runtergestoßen. Hinten wurde der Schlag aufgemacht und dann sind die Gefangenen runtergestürzt und mit Fußtritte misshandelt worden, bis sie im Lager drin waren. (…) Nachher hat man immer noch Schreie gehört. Denn die Häftlinge sind in den Keller getrieben worden und dort hat man sie wahrscheinlich erst einmal weiter geschlagen.
Schutzhaft bedeutete auch immer Zwangsarbeit. Im Schutzhaftlager Welzheim mussten die Inhaftierten Schreinerarbeiten ausführen. Unter Anderem wurden Galgen gefertigt.“

Die Verpflegung der Häftlinge war nicht ausreichend und minderwertig. Morgens gab es Kaffeeersatz mit Schwarzbrot, mittags einen Liter wässrigen Eintopf und abends Brot mit Margarine, 20-30 g Käse oder Schwarzwurst. Viele aßen schon mittags ihre soeben empfangene Brotration auf, damit sie nicht gestohlen werden konnte. Sie hatten dadurch nur noch eine Mahlzeit in 24 Stunden.
Schwer krank wird Franz 1941 aus dem KZ Welzheim entlassen. Er leidet an Gicht. Über ein Jahr lang wird er in Gicht-Watte gebettet. Er muss gedreht und gewaschen werden.
Alleine kann Emma diese Aufgabe nicht meistern. Unterstützung findet Sie in der Nachbarschaft bei den unverheirateten Schwestern Kaim.
Wird Franz nach seinen Erlebnissen im KZ gefragt, so antwortete er jedem, auch seiner Familie: „Fragt mich nicht. Sollte ich Euch etwas sagen, so würde ich auch Euch in Gefahr bringen.“
Emma führt die kaufmännischen Geschäfte ihres Mannes Franz bei der Handwerkerkrankenkasse weiter.
Als er wieder aufstehen kann und seiner Genesung entgegensieht, macht er einen Spaziergang um das Haus, begleitet von seinem Sohn Siegfried, damals acht bis neun Jahre alt. Siegfried wird später berichten, dass sein Vater den Hausschlüssel verlor, ohne zu wissen wo, da er in den Händen als Folge seiner Gichterkrankung kein Gefühl mehr hatte.
Während seines Gefängnisaufenthaltes wird Franz die Parteimitgliedschaft entzogen; schließlich schadet ein Sträfling dem Ansehen der Partei.
Nach verbüßter Strafe und gesundheitlicher Genesung verweigert Franz die erneute Annahme seines Parteibuches. Er will nicht wieder Mitglied der NSDAP werden. Deshalb erhält er die Nachricht, dass er trotz gesundheitlicher Gebrechen an die Front einberufen werden soll.
Er versucht, über seinen Freund und Arzt Dr. Haerle, von der Wehrpflicht befreit zu werden. Selbst in Anbetracht seines gesundheitlichen Zustandes getraut sich Dr. Haerle jedoch nicht, diesem Wehruntauglichkeit zu bescheinigen.
Die Vorstrafen des Franz Strasser und seine Weigerung, das Parteibuch wieder anzunehmen, lasten zu sehr in seiner Personalakte. Trotz seiner Verwundung im ersten Weltkrieg ist Franz spätestens im August 1943 wieder Soldat. Bei seiner Abreise am Bahnhof Waldsee verabschiedet er sich von seiner Frau und dem jüngeren Sohn Siegfried mit folgender Botschaft: „Haltet Euch fern von der Politik.“
Die Familie erhält längere Zeit noch Briefe. Im Oktober 1946 veröffentlichen die Angehörigen eine Todesanzeige: „Nach langem bangem Warten wurde uns zur Gewißheit, dass mein lieber Mann, unser guter Vater am 21. April 1945 im Osten den Soldatentod erlitten hat.
Erst die Recherche bei der „Deutsche Dienststelle“ in Berlin vom Juni 2012 bestätigen nüchtern:
„O.Gefr. 1/II/Wehl Franz Strasser, geb. 27.12.1894 in St. Gallen, Erkennungsmarke 2/L.S. Ers. Abt. 2-451 Gr.Spl. Unterkieferschuss - bruch, O.Arm – Schussbruch, Weichteilwunden, sterbend eingeliefert 21.04.45 20.45 Uhr. Die Angehörigen sind nicht benachrichtigt.“

Hintergrund der Ereignisse: Seit 15. Februar war Breslau von den Russen eingeschlossen. Franz muss also unmittelbar nach seinem Krankenhausaufenthalt bis 22.03.1945 im Schloss Karlsruhe, in die eingeschlossene Festung Breslau verlegt worden sein. Breslau lag täglich von 6 Uhr bis 10Uhr unter Artilleriebschuss und wurde von 10.00 Uhr bis 13.00 Uhr aus der Luft bombardiert.
Breslau kapitulierte am 6. Mai 1945, vier Tage nachdem die letzten Verteidiger Berlins die Waffen niedergelegt hatten. Nach Schätzungen des britischen Historikers Norman Davies kamen im Kampf um Breslau insgesamt 170.000 Zivilisten, 6.200 deutsche und 13.000 sowjetische Soldaten ums Leben. Es wurden 12.000 deutsche und 33.000 sowjetische Soldaten verwundet.
Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., teilt der Familie mit:
„Folgende von dem Bundesarchiv Abt. PA (ehem. Wehrmachtsauskunftstelle), Berlin, bestätigten Angaben liegen uns über Ihren Großvater vor :“
Name: Franz Strasser
Dienstgrad: Obergefreiter
Geboren: 27.12.1894, St. Gallen
Truppenteil: 2./L.S.Abt.mot.33-1./II Wehl
Erkennungsmarke: -451-2./L.S.E.Abt.2
Todestag: 21.04.1945
Todesort: Fest. Laz. IV b. Breslau
Bestattet: Wroclaw (=Breslau) Laurentiusfriedhof, Feld 4 – Rh. 3 – Grab 70
In Wroclaw Laurentiusfriedhof konnten von unserem Umbettungsdienst keine für den Ort gemeldeten Toten exhumiert und zur Kriegsgräberstätte nach Nadolice Wielkie gebracht werden. Der Friedhof wurde in einen polnischen Friedhof umgewandelt. Er trägt heute den Namen Cmentarz Sw. Wawrzynca.
Das Schicksal der Familie in den letzten Kriegsmonaten:
Während der letzten Kriegsmonate war Sohn Egon Offizier in der neu aufgestellten 6. Armee vor Stalingrad.
Nach Kriegsende war der Soldaten größte Sorge, nicht in Gefangenschaft der russischen Sieger zu kommen. Durch die Nöte, die Russland durch deutsche Kriegseinwirkung hatte, waren die russischen Sieger besonders brutal. Gefangene Soldaten wurden wahllos erschossen. Kriegsgefangene Soldaten mussten teilweise bis 1961 in Russland Zwangsarbeit leisten.
Egon erlitt einen Unterschenkeldurchschuss und wurde ins Lazarett Kempten im Allgäu eingeliefert. Als alliierte Truppen anrückten, flüchtete er zu Fuß in Richtung Altusried auf einen abgelegenen Bauernhof, genannt „Rauher Stein“. Schließlich waren heimkehrende Soldaten begehrtes Ziel der Siegermächte. Dort lernte Egon seine spätere Frau Anna Berta Burkhard kennen.
Als sich die Kriegslage beruhigte schrieb er an seine Mutter Emma, dass er bald nach Waldsee heimkehren wolle. In Waldsee war die Situation aber noch angespannt. Soldaten wurden vor Panzer gespannt und erschossen. Selbst Heimkehrer vom Reichsarbeitsdienst mussten um ihr Leben fürchten.
So entschloss sich Emma, zu Fuß von Waldsee nach Altusried zu gehen, um Egon vor dieser Gefahr zu warnen. Wie sie die nächtliche Ausgangssperre verbrachte, ist nicht bekannt. Es gelang ihr, den Sohn Egon von einer verfrühten Heimkehr nach Waldsee abzuhalten.
In Waldsee ging das Leben weiter. Im Brandschutt des Hauses wurde nach Verwertbarem gesucht. Emma und ihr damals 11-jähriger Sohn waren mit dieser Arbeit überfordert. Daher bat Emma beim Bürgermeister um Hilfe, nach Wertsachen zu suchen und den Brandschutt abzutragen. Zwei Männer aus Steinach wurden eingeteilt, diese Arbeit zu übernehmen. Emma bezeichnete diese Leute mit dem Wort „Leichenflädderer“.
Im Brandschutt der Küche war das Silberbesteck von Emma Strasser, geb. Mann zu finden. Nur wenige Einzelstücke konnte sie retten. Das Silberbesteck war Bestandteil ihrer Aussteuer und enthielt die Initialen EM für Emma Mann.
Das Meiste hatten die Arbeiter in der Hecke versteckt und holten das Diebesgut im Schutze der Nacht ab. Emma stellte diese Männer, wollte ihr Eigentum zurückfordern, wurde aber nur verhöhnt.
Im Jahr 1980 war ich, Joachim Strasser zu Gast im Hause der Familie Schön zum Kaffee eingeladen. Frau Schön war Tochter des damaligen Arbeiter Neyer. Mir wurde zum Cafe´ aufgetischt mit eben diesem Besteck, welches ich als Einzelstück von meiner Oma Emma kannte, mit den Initialen „EM“. 35 Jahre nach dem Diebstahl und zwischenzeitlich zwei Generationen entfernt.
Ich habe nie darüber geredet, weder mit den Nachkommen des Diebs, noch mit meinem Vater.
80 Jahre Kriegsende in Bad Waldsee
Am 29. April erinnerte die Stadt Bad Waldsee, Mitglied des Denkstättenkuratoriums, mit einer öffentlichen Gedenkfeier im Museum im Kornhaus an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren. Im Mittelpunkt stand das Gedenken an Auguste Bonal, Lucien Monjoin, Karl Panhans und Julius Spiegel – die vier Häftlinge, die kurz vor Kriegsende auf den Todesmärschen aus den Wüste-Lagern auf der Schwäbischen Alb auf dem heutigen Gemeindegebiet Bad Waldsee (Unterurbach und Haisterkirch) von den Nationalsozialisten erschossen wurden.
Lesen Sie hierzu die Berichterstattung aus dem Amtsblatt der Stadt Bad Waldsee vom 08.05.2025:
Hier gelangen Sie zu einem Zeitzeugenbericht von René Auer zu "80 Jahre Kriegsende" in Bad Waldsee (Schwäbische, 08.05.2025):
Auguste Bonal
Auguste Bonal war Direktor des Presswerks der Peugeot-Werke in Sochaux bei Montbéliard (Bourgogne-Franche-Comté).
Ab 1943 sollten dort im Auftrag der NS-Regierung die Hüllen für die V1 Raketen hergestellt werden. Auguste Bonal engagierte sich im Widerstand. Unter dem Decknamen „Tobus“ war er aktiv für die das britische Agentennetz „Buckmaster“ und die SOE. Mit 26 Arbeitern organisierte er die Sabotage der hydraulischen Presse. Ferdinand Porsche, „NS-Wehrwirtschaftsführer“ in Frankreich, fuhr zu Ermittlungen nach Sochaux. In einem Telefonat mit Hitler ließ er sich die Vollmacht geben, die Verantwortlichen ins „Reich“ deportieren zu lassen.
Am 23. März 1944 wurde Auguste Bonal verhaftet und in das Gestapogefängnis in Dijon überführt. Nach verschärften Verhören erfolgte im August 1944 die Verlegung ins Konzentrationslager Natzweiler (Elsaß). Seine Karteikarte trug den Vermerk NN (Nacht und Nebel--Häftling). Das bedeutete „Rückkehr unerwünscht, spurloses Verschwinden, keine Hinweise an Angehörige“.- Im September 1944 wurde er nach Schömberg deportiert, in eines der 7 Lager, die unter dem Decknamen „Wüste“, am Westrand der Schwäbischen Alb, zwischen Hechingen und Rottweil, die erst 1943/44 errichtet wurden (Ölgewinnung aus Schiefer).
Von dort aus wurde er am 18. April 1945 mit den anderen Häftlingen auf den Todesmarsch gezwungen. Am Sonntag, 22. April 1945, erreichte seine Kolonne Waldsee. 30 Häftlinge wurden auf einen Lastwagen verladen. Kurz hinter Waldsee blieb das Fahrzeug liegen. Die Wachmannschaften setzten sich ab. Auguste Bonal und Lucien Monjoin flüchteten mit Kameraden in ein nahes Waldstück. Am nächsten Morgen wollten Bonal und Monjoin die Lage erkunden. Plötzlich näherte sich ein Auto mit deutschen Offizieren. Diese befahlen ihnen zur Kontrolle heranzukommen. Unmittelbar darauf eröffneten die Offiziere das Feuer. Ein Überlebender, Auguste Thibault: „Bonal starb sofort, aber Lucien Monjoin wurde verletzt und verstarb kurze Zeit später durch einen Schuss eines Mannes des Werwolfs.“
Am 23. April rückten französischen Truppen in Waldsee ein. Vor deren Eintreffen veranlasste der Bürgermeister, das Begräbnis der Toten am Ort der Tat. Auf Anordnung der französischen Besatzungstruppen errichtete die Gemeinde dort ein schmiedeeisernes Kreuz. Im Herbst 1948 wurden die Toten nach Frankreich überführt.
1945 wurde das Fußballstadion des FC Sochaux nach Auguste Bonal benannt. Er war 1941 - 1943 Sportdirektor des FC Sochaux. Eine Gedenktafel am Stadion erinnert bis heute an Auguste Bonal.
Quellen:
„Le mouvement sociale Peugeot“, Französisches Institut für Sozialgeschichte, Artikel „La direction de Peugeot sous l` Occupation, 1961, Francois Marcot“,
Livre Mémorial, Fondation pour la Mémoire de la Déportation
Amtsblätter des Stadt Bad Waldsee: 6. Jahrgang 19. Dezember 2013 und 8. Mai 2914;7. Jahrgang, 30. April 2015; 8. Jahrgang, 12. und 26. November 2015
Unterlagen aus dem Stadtarchiv Bad Waldsee, Michael Barczyk
Todesmärsche aus den „Wüste“- Lagern und dem Spaichinger KZ Außenlager in Richtung Bodenseevorland und Alpen im April 1945, Gertrud Graf und Eugen Michelberger
Das Franzosenkreuz von Waldsee-Urbach
Erinnerung an Widerstand, Gewalt und brutalen Mord
Hier der Artikel zum Bericht im Magazin "Oberland":
Wer den Friedhof in Molpertshaus betritt, dem fällt ein großes schmiedeisernes Kreuz an der Friedhofsmauer auf. Wenige Besucher wissen um seine Geschichte. Ältere Einheimische berichten: Am Montag, 23. April 1945, wurden an der Bahnunterführung bei Unterurbach, links des Urbachs, zwei Franzosen von deutschen Uniformierten ermordet. Die Toten wurden zunächst liegen gelassen, sind aber noch vor dem Einmarsch der Franzosen an Ort und Stelle begraben worden. Die Gemeinde Urbach errichtete an der Stelle des Verbrechens ein schmiedeisernes Kreuz. Im Jahr 1958, wegen des Baues des Viaduktes, bekam das Kreuz einen neuen Standort im Friedhof von Molpertshaus.

Die Hintergründe:
April 1945: In den letzten Tagen vor der Besetzung von Waldsee wurden zu Nachtzeit mehrere Transporte von KZ –Gefangenen durch Waldsee geführt. Die SS-Bewachung trieb die Häftlinge zu Fuß Richtung Haisterkirch-Urbach. Eine Gruppe der Gefangenen (etwa 30 Mann) wurde auf einen Lastwagen mit Anhänger geladen. Im Wald zwischen Waldsee und Haisterkirch musste das Fahrzeug wegen einer Panne stehen gelassen werden. Aus Angst vor den schnell vorrückenden französischen Truppen setzte sich die dazugehörige Wachmannschaft ab. Das war am Sonntag, den 22. April, erinnert sich ein Überlebender.1
Lucien Monjoin und vier seiner Kameraden konnten fliehen und versteckten sich in „Adlers Hölzle“, einem Waldstück, nicht weit entfernt von der Bahnunterführung Unterurbach. Um die Mittagszeit des nächsten Tages beschlossen Lucien Monjoin und Auguste Bonal auf Erkundung zu gehen. Sie hatten kaum 50 Meter außerhalb des Waldes zurückgelegt, als sich ein Kübelwagen mit deutschen Offizieren näherte. Diese forderten Lucien Monjoin und August Bonal auf, zur Kontrolle ans Auto zu kommen. Als sich die beiden dem Fahrzeug näherten, eröffneten die Deutschen das Feuer. Auguste Bonal wurde tödlich getroffen. Lucien Monjoin blieb schwer verletzt liegen. Die deutschen Offiziere, vermutlich Angehörige der Kampftruppe Abele, fuhren weiter. Die Schüsse hatten Einwohner des nahegelegenen Dorfes alarmiert. Nach Aussagen von Einheimischen und Mithäftlingen erschoss ein Angehöriger des Werwolfs den schwer verletzten Lucien Monjoin.2
Wer waren Auguste Bonal und Lucien Monjoin, die am 23. April 1945 bei Waldsee ermordet wurden?
Auguste Bonal, am 7. Februar 1998 in Sèvers im Département Haute-de-Seine geboren, wird einer der Direktoren der Peugeot-Werke in Socheaux und Sport-Direktor des Fußballclubs Socheaux - Montbeliard.

Nach der Besetzung Frankreichs schließt er sich dem britischen Geheimdienst S.O.E an. Sein Tarnname ist „Tobus“. Er gehört zum Agentennetz „Buckmaster“3, das den Vormarsch der Alliierten nach der Landung in der Normandie vorbereitet. Bei Peugeot organisiert Auguste Bonal den internen Widerstand. Seine Gruppe sorgt für Verzögerungen bei Bestellungen und sabotiert die Pressen, mit denen die Aussenhüllen für die V 1 Raketen hergestellt werden sollen. Ferdinand Porsche, der als NS Rüstungskoordinator in Frankreich eingesetzt ist, entdeckt die Hintergründe für die gestörte Produktion, telefonierte mit Hitler und erwirkt die Vollmacht, alle Direktoren des Peugeot-Werks von Sochaux verhaften und deportieren zu lassen. Um aber die Rüstungslieferungen aus Sochaux nicht zu gefährden, muss sich Ferdinand Porsche darauf beschränken, nur an Auguste Bonal ein Exempel zu statuieren. Nach brutalen Verhören im Gestapogefängnis in Dijon, wird Auguste Bonal 23. August 1944 als NN-Häftling (Rückkehr unerwünscht) ins Konzentrationslager Natzweiler und von dort aus in das Außenlager Schömberg überstellt.4
Lucien Monjoin wird am 7. Juni 1921 in Villers–les-Ormes, im Département 36-Indre geboren. Er schließt sich schon früh dem französischen Widerstand an, wird Leutnant der französischen Streitkräfte des Inneren FFI und läßt sich vom britischen Geheimdienst SOE (Special Operations Executive) anwerben. In der Region Haute-Savoie baut er ein Netzwerk für den SOE auf. vgl.4
Ende 1941 gründen Robert Boyer (Deckname „Bob“) und André Girard das Netzwerk „Carte“. Zu den verantwortlichen Persönlichkeiten des Netzwerks gehören Lucien Monjoin, Lucien Mesnard (Offizier in britischen Diensten) und Dr. Robert Morel. Sie überzeugen viele Männer, sich dem Widerstand anzuschließen, Maquisards zu werden, schulen sie für Sabotageakte, bauen ein Netz von Funkstationen auf. Sie organisieren den Rücktransport abgeschossener alliierter Flugzeugbesatzungen nach England. vgl. 3
Lucien Monjoin und Dr. Robert Morel arbeiten Hand in Hand und schaffen Verbindungen zu anderen Résistance-Gruppen im Jura und in Paris. Als das Netzwerk „Carte“ 1942 aufgerieben wird, schließen sie sich den „Orphelins“ an, gegründet von Freddy und Gabrielle Mayor, die im Jura aktiv sind. Diese Widerstandsbewegung leitet ihren Namen von einem Anwesen ab, das ihnen als Stützpunkt dient. Es handelt sich um das Lager der Käserei Graff in Dôle.
Zum Netzwerk der „Orphelins“ gehören mehrere Gruppen von Maquisards. Lucien Monjoin und Dr. Robert Morel werden „chef du groupe“, Leiter der Gruppe der Region Dôle-Poligny. Eine der wirkungsvollsten Aktionen von Monjoin, Morel und Mayor ist am 23. Mai 1944 die Unterbrechung des Rhône-Kanals bei Solvay. Die dortige Chemiefabrik (Chlorherstellung) wird völlig von Rohstofflieferungen und von der Wasserzufuhr abgeschnitten. Sie muss den Betrieb bis zum Kriegsende einstellen.5
Die „Orphelins“ und ihre Mitstreiter leistet 1944 wichtige Hilfe beim Vormarsch der alliierten Truppen nach der Landung in der Normandie. Sie stehen in enger Verbindung mit London, erkunden Gelände für Fallschirmabwürfe, bergen und transportieren 120 Tonnen Waffen, sie retten 9 Fallschirmspringer, verüben 16 Anschläge auf Bahnlinien, sprengen Brücken, zerstören Telefonleitungen. Es ist hervorzuheben, dass sie dabei darauf achten, dass Menschen nicht zu Schaden kommen. Für eine Großaktion am 23. Juni 1944, Deckname „opération sénégalaise“6, mobilisieren die „Orphelins“ über 500 Mitglieder des Widerstands, die in einer einzigen Nacht die Materialien einer großen Anzahl von Fallschirmabwürfen bergen.

Nach der Operation vom 23. Juni 1944 muss ein Funkgerät zu einem anderen Standort gebracht werden. Ein junger, noch unerfahrener Maquisard transportiert das Gerät (getarnt in einem Koffer) auf dem Fahrrad. Er fällt einer deutschen Patrouille auf, die ihn verhaftet. Beim Verhör verrät er nichts, er hat aber eine Zeichnung mit dem Hinweis auf das Versteck der „Orphelins“ dabei.- Am 26. Juni treffen sich die Führungskräfte der „Orphelins“, um eine neue Aktion zu planen. Lucien Monjoin und die anderen sitzen beim Essen, als deutsche Fahrzeuge auf den Hof fahren. Gabrielle Mayor bemerkt sie als Erste und kann die Kameraden warnen. Sie verstecken sich im Zwischenboden des Dachgeschosses, nur Freddy Mayor flüchtet in das Käselager im Keller und kann später entkommen. Gabrielle versucht noch Spuren zu verwischen, vernichtet Papiere, zerstört ein Funkgerät, aber auf dem Tisch bleiben Gedecke mit kaum berührten Speisen stehen. Die Deutschen sind nervös und wissen noch nicht genau, was sie suchen. Als sie die Teller sehen, ahnen sie, dass mehrere Personen in den Gebäuden des Gehöfts verborgen sein müssen. Zunächst entdecken sie keinen der „Orphelins“. Gabrielle Mayor wird über viele Stunden unter Anwendung von Folter verhört. Trotzdem schweigt sie beharrlich.- In der Nacht schaltet plötzlich eine Pumpe ein, die das Wasserreservoir des Anwesens auffüllt. Ein deutscher Soldat, der im Obergeschoss Wache hält, erschrickt und schießt in die Decke des Raumes. Blut dringt heraus. Ein anderer Soldat wirft daraufhin eine Handgranate. Die Orphelins stürmen heraus, um sich vor der Explosion zu retten. Die Deutschen stürzen sich auf sie und misshandeln sie schwer. Josef Marie Gonzague de Saint-Geniès („Lucien“) tötet sich selbst mit einer Zyankalikapsel, die er bei sich hat. Seine Leiche fesseln die deutschen Soldaten mit Handschellen an einen seiner Kameraden. Die Gefangenen werden nach Dijon ins Gestapogefängnis gebracht und bei Verhören während vieler Tage und Nächte schwer gefoltert.vgl. 5
Am 23. August 1944 erreichen alliierte Truppen die Umgebung von Dijon. Die Gestapo überführt deshalb am 23. August 1944 die Gefangenen ins Konzentrationslager Natzweiler im Elsaß. Gabrielle Mayor wird von dort aus ins KL Ravensbrück deportiert. Sie überlebt und hält später die Erinnerung an die „Orphelins“ wach. Ebenso wie ihr Mann, Freddy Mayor, der allen Verhaftungswellen entgeht und sich bis zum Kriegsende verbergen kann. vgl. 5
In den ersten Septembertagen 1944 beschließen die NS Verantwortlichen das Lager Natzweiler zu räumen. Lucien Monjoin und Robert Morel werden einem Transport in das Außenlager Schömberg zugeordnet. Das Lager Schömberg gehörte zum Unternehmen “Wüste“, das gegründet wurde, um aus Schiefer Öl zu gewinnen. Die Häftlinge wurden von der SS an die (DÖLF) Deutsche Ölschiefer-Forschungsgesellschaft „verliehen“. Sie mussten Schieferblöcke brechen, zerkleinern und zur Verschwelung vorbereiten. Sie waren eingesetzt zum Rohrleitungsbau und zu schweren Erdarbeiten. Im Konzentrationslager Schömberg begegnet Lucien Monjoin einem weiteren Kameraden aus dem Agentennetz „Buckmaster“, Auguste Bonal. Ende März war den Verantwortlichen der sieben „Wüste“-Lager klar, dass die französischen Truppen auf dem Vormarsch in die Region Rottweil / Balingen waren. Die Räumung der Lager wurde vorbereitet.7
Christophe Hornick, ein luxemburger Mithäftling von Lucien Monjoin und Auguste Bonal schreibt: „17. April 1945: Große Aufbruchsvorkehrungen im Lager. Kein Ausmarsch mehr zur Arbeit, aber Vorkehrungen für das Verlassen des Lagers. Wasserleitungen und Elektrizität waren bereits abgesperrt.“ Laut Michel Ribon und anderen Überlebenden wurden die Häftlinge „Am 17. April 1945 gegen 18.00 Uhr in Marsch gesetzt“. Die Zahlen lassen sich nicht eindeutig ermitteln. Es waren etwa 617 Mann. Die Verantwortung für die Kolonnen hatte der SS Wachmann Dittmar. Als Verpflegung erhielten die Gefangen nur einige Kartoffeln, einige Kohlrüben, eine Scheibe Brot, etwas Marmelade. Nach Aussagen von Auguste Thilbault, Michel Ribon und anderen führte die Route von Schömberg aus über Deilingen, Beuron, Messkirch, Pfullendorf, Ostrach, Altshausen, Waldsee, Haisterkirch, Treherz, Kronburg, Grönenbach, Kempten, Sulzberg, Nesselwang, Pfronten, Weißensee, Füssen, Reutte in Tirol, Plansee, Garmisch, Mittenwald bis Scharnitz.8
Lucien Monjoin und Auguste Bonal erlebten die Befreiung nicht mehr. Aus den Unterlagen des Rathauses Unterurbach bei Waldsee geht hervor, dass die zwei, am Montag 23. April 1945, an der Bahnunterführung bei Unterurbach, links des Urbachs von deutschen Uniformierten ermordeten wurden. 1948 wurden die Toten exhumiert und nach Frankreich überführt.9
Lucien Monjoin wurde in seinem Heimatort Villers-les-Ormes bestattet. Sein Name befindet sich auf dem Ehrenmal der Gemeinde. Posthum erhielt er folgende Auszeichnungen: Ritter der Ehrenlegion, das Croix de Guerre mit goldenem Stern und die Medaille de la Résistance.10

Zum Andenken an Auguste Bonal trägt das Fußballstation in Montbeliard seinen Namen.11
Am 24. April 2015 wurde in Bad Waldsee eine Gedenktafel enthüllt. Das geschah auf Anregung des Stadtarchivars Michael Barczyk. Das Denkstätten-Kuratorium-NS-Dokumentation Oberschwaben, unter Leitung von Prof. Dr. Marcus, setzte das Projekt um. Die Tafel erinnert an Lucien Monjoin und Auguste Bonal, sowie an zwei weitere Häftlinge, die auf dem Todesmarsch bei Waldsee ermordet wurden: Julius Spiegel und Karl Panhans.

Quellen und Anmerkungen:
1) Arno Huth, Das doppelte Ende des KL Natzweiler, S. 312
2) Amtsblatt der Stadt Waldsee, 12.12.2013, Nr. 45, S. 8 und vom 8. Mai 2014, Nr. 17, S. 11, sowie Robert Steegmann, Das KZ Natzweiler und seine Außenlager, Bericht von Michel Ribon, S. 172
3) Maurice Buckmaster (geboren 1902) war Nachrichtenoffizier der britischen Geheimdiensts. Im September 1941 wurde er Leiter der Frankreich-Abteilung der SOE. Die Aktion Buckmaster bereitete den Vormarsch der Alliierten Truppen nach der Landung vor.
4) A.V.A., Bulletin des Amis Du Vieil Arles, Décembre 2010, Nr. 147
5) A.V.A., Bulletin des Amis Du Vieil Arles, Mars 2011, Nr. 148
6) Großaktion am 23. Juni 1944: Deckname „opération sénégalaise“, die „Orphelins“ über 500 Mitglieder des Widerstands, die in einer einzigen Nacht Materialien einer großen Anzahl von Fallschirmabwürfen bergen. Der Befehl zum Beginn der Aktion lautet:“ Pour Odette et Lucien, soyez prêts sous le cerisier“ (Für Odette und Lucien, seid bereit unter dem Kirschbaum). Die Größe der Aktion wird beschrieben mit dem Satz: „432 Sénégalais arriveront avec chacun trois cartouches, accompagnés par 36 officiers appongnateurs“. “Sénégalaise“ steht für die Fallschirmabwürfe, der Begriff „officiers“ für die beteiligten Flugzeuge, die dreistellige Zahl ist ein Code für den Beginn der Aktion.
7) mémorial genweb.org und Gertrud Graf und Eugen Michelberger, Todesmärsche durch Oberschwaben, S. 8, 9
8) Gertrud Graf und Eugen Michelberger, Todesmärsche durch Oberschwaben, S. 11
9) Amtsblatt der Stadt Waldsee, 12.12.2013, Nr. 45, S. 8 und 9
10) Gertrud Graf und Eugen Michelberger, Todesmärsche durch Oberschwaben, S. 229
11) mémorial genweb.org und Gertrud Graf und Eugen Michelberger, Todesmärsche durch Oberschwaben, S. 228
Gertrud Graf und Eugen Michelberger
Josef Glaser
„Meine letzte Stunde hat geschlagen.“
Vor achtzig Jahren wurde der Waldseer Polizist Josef Glaser hingerichtet.
Vor achtzig Jahren, am 17. Februar 1944, wurde um 7:30 Uhr der Polizist Josef Glaser in Warschau wegen „Wehrkraftzersetzung“ hingerichtet. Mit seiner Frau Margaretha, deren Tochter Lisel und dessen Sohn Dieter hatte er in Waldsee gelebt und als Polizist gearbeitet.
Josef Glaser war 1899 im oberschwäbischen Dorf Ingerkingen geboren worden, sein Vater war Landwirt und „Polizeidiener“. Im Ersten Weltkrieg wurde er eingezogen und musste im Jahr 1918 noch an die Front. Nach dem Krieg begann er seine Ausbildung bei der württembergischen Polizei in Böblingen und war an verschiedenen Orten eingesetzt, in Stuttgart, Göppingen, Lorch, Tübingen und Marbach, schließlich 1939 im Polizeirevier in Waldsee. Nachdem die deutsche Wehrmacht 1940 Frankreich erobert hatte, wurde Josef Glaser im August 1940 ins Elsass versetzt. Gegen seinen Willen musste er im Juni 1941 seinen Dienst im ebenfalls von der Wehrmacht eroberten Polen antreten, und zwar im Gendarmerieposten der Kleinstadt Glowno nordöstlich von Łòdź. Nachdem er alle Prüfungen und Lehrgänge mit Erfolg absolviert hatte, hatte er schließlich den Rang eines „Bezirks-Leutnants der Gendarmerie“ erreicht. Am 1.4.1933 war er in die NSDAP eingetreten.
Er hatte 1928 Margaretha Wahl, geborene Göggelmann, geheiratet. Sie stammte aus Urspring auf der Schwäbischen Alb und war schon im Ersten Weltkrieg Witwe geworden. Ihre einzige Tochter Lisel war bereits 1913 geboren worden, das heißt, dass Josef Glaser eine Kriegerwitwe mit einer 15jährigen Tochter heiratete. Mitte der dreißiger Jahre bekam diese ihr erstes Kind, den Buben Dieter. Die Familie Josef Glasers bestand 1943 aus dem 44jährigen Josef Glaser, seiner 50jährigen Frau Margaretha, seiner 30jährigen Stieftochter Lisel und deren dreijährigem Sohn Dieter(le).
Im Nachlass von Margaretha Glaser befand sich ein Ledermäppchen mit bemerkenswerten Schriftstücken, die sie nie aus der Hand gab. Daraus lassen sich die letzten Monate im Leben ihres Mannes rekonstruieren. Er wurde im Dienst am 5.3.1943 verhaftet und im Polizeigefängnis in Warschau festgehalten. Von da an schrieb er regelmäßig seinem „Gretle“, seiner „Lisel“ und seinem „Dieterle“ und hielt diese über sein Verfahren auf dem Laufenden, beteuerte ihnen aber vor allem seine innige Zuneigung. Nachdem er monatelang hoffte, dass sich der Vorwurf gegen ihn wegen seiner untadeligen Haltung gegenüber seinem Vaterland und der Partei entkräften lasse, wurde er am 10.6.1943 wegen „Wehrkraftzersetzung“ zum Tode verurteilt.
Sowohl er als auch sein Gretle wandten sich an Hitler mit Gnadengesuchen. Am 18. Februar 1944 erhielt Margaretha Glaser direkt von der „Kanzlei des Führers der NSDAP“ die Mitteilung, der „Führer (habe) keine Veranlassung gefunden, Ihren Ehemann zu begnadigen.“ In den Akten findet sich die Abschrift eines Schreibens Hitlers mit den Sätzen: „Ich bestätige das Feldurteil des SS- und Polizeigerichts Krakau VI vom 10. Juni 1943 gegen Josef Glaser. Einen Gnadenerweis lehne ich ab. Der Gerechtigkeit ist freier Lauf zu lassen. gez. Adolf Hitler“.
In den Personalakten des Polizisten Josef Glaser im Staatsarchiv Sigmaringen ist zu lesen, worin seine „Wehrkraftzersetzung“ bestanden habe: „Als Polizeioffizier in Krakau (habe) er beim Erteilen von Unterricht anstelle einer positiven nationalsozialistischen Schulung sich abfällig über die politische Führung ausgelassen und den siegreichen Ausgang des Krieges angezweifelt“.
Der bewegendste Brief Glasers an seine Lieben in Waldsee ist sein Abschiedsbrief, den er in der Nacht vor seiner Hinrichtung verfasste. Er beginnt mit dem Satz „Meine letzte Stunde hat geschlagen.“ Auf vier eng beschriebenen Seiten schilderte er seine Situation und tröstete seine Hinterbleibenden: „meine letzten Gedanken gelten Dir, Weib; meine Bitte zum Herrgott ist, er möge Euch beistehen bis zu Eurem Lebensende. Ihr, meine Liebsten.“
Am 17.2.1944 wurde er morgens um 7:30 erschossen. Sein Leichnam wurde auf dem Evangelisch-Augsburgischen Friedhof in Warschau bestattet.
Seine Frau Grete in Waldsee war damit zum zweiten Mal Witwe geworden, inzwischen 51jährig. Erst nach dem Krieg konnte sie durchsetzen, dass sie ein Anrecht auf Witwenbezüge aus der Stellung ihres zu Unrecht ermordeten Mannes erhielt und so lebte Margaretha Glaser noch einmal ein halbes Jahrhundert lang und starb erst im Jahr 1999 mit 106 Jahren als älteste Ulmerin. In ihrem Nachlass fanden sich die Briefe Josef Glasers.
Oswald Burger
Hier der Artikel in der Schwäbischen Zeitung vom 16.02.2024: