Konstanz
Am Montag, den 27.01.25, genau achtzig Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, erinnerte das Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Reichenau an das Leid der Menschen, die Opfer der zwölf Jahre andauernden NS-Bevölkerungspolitik wurden. Dies geschah durch eine Gedenkveranstaltung am Mahnmal, das an die 508 Ermordeten erinnert, eine Ausstellung mit dem Titel „Es konnte alle treffen“ sowie eine Rede von Sabine Bade. Bade, die sich seit vielen Jahren intensiv mit den Themen Zwangssterilisation und den „Euthanasie“-Morden auseinandersetzt und dazu publiziert, sprach im Rahmen der Veranstaltung.
Hier die Rede:
Opfer von ,Euthanasie‘-Verbrechen und Zwangssterilisierungen aus Konstanz
Vielen Dank für die Vorstellung und die Möglichkeit, hier am Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus – 80 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau - zu Ihnen sprechen zu dürfen.
Ich möchte Ihnen einen Überblick über das Leben und Leiden von Menschen geben, die Opfer der 12 Jahre währenden NS-Bevölkerungspolitik wurden.
Zwei Anmerkungen möchte ich voranstellen.Zum Einen, mit Blick auf den Titel meines Vortrages:
Sie sehen, dass hier das Wort „Euthanasie“ in Anführungszeichen gesetzt ist. In meinem Vortrag werde ich nicht immer dazu kommen, die Anführungszeichen mitzulesen oder die entsprechende Handbewegung dazu zu machen. Deshalb möchte ich Sie bitten, sich dies immer hinzu zu denken. Denn „Euthanasie“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „guter, süßer Tod“ oder auch „schöner Tod“. Und nichts, aber auch rein gar nichts war an der Vergasung und dem Todspitzen von Frauen, Männern und Kindern, oder an ihrem systematischen Verhungernlassen „süß“ oder gar „schön“!
Hierbei handelte es sich nicht um Sterbehilfe auf eigenen Wunsch – sondern um Mord. Bei dem Begriff „Euthanasie“ für diese Morde handelt es sich um die Sprache der Täter. Und leider steht uns für diese Opfergruppe nur die Tätersprache zur Verfügung. Völlig anders als bei den Morden an Jüdinnen und Juden, wo wir von „Holocaust“ oder „Shoa“ sprechen, also einen von den Opfern eingeführten Begriff verwenden.
Deswegen bleibt auch mir hier nur die Verwendung der Tätersprache, wobei die Distanzierung von diesem euphemistischen Begriff lediglich durch das Setzen in Anführung möglich ist. Deshalb meine Bitte: Die Anführungsstriche während des Vortrags stets mitzudenken.
Zum anderen ist es wichtig dem Vortrag voranzustellen, dass die annähernd 700.000 Frauen, Männer und Kinder, die zwischen 1934 und 1945 Opfer von Zwangssterilisationen und „Euthanasie“-Verbrechen wurden, auch heute 80 Jahre nach der Befreiuung vom Nationalsozialismus – noch immer nicht rehabilitiert sind!! Damit u.a. auch nie Anspruch auf Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz hatten. Noch im vergangenen Jahr, als ich die Einladung erhielt, hier heute zu sprechen, sah es so aus, als würde dieser Vortrag heute der erste im ZfP sein, an dem diese große Opfergruppe endlich mit anderen Verfolgten des NS-Regimes gleichgestellt wäre. Denn im Jahr 2021 legten die Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag fest, diese Opfergruppe rechtlich endlich als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkennen zu wollen. Was längst überfällig war.
Ernst Klee hat dies bereits vor über 40 Jahren in einem achtseitigen Artikel in der ZEIT gefordert. Am 7. November 2024 hätte nun dieses Gesetz in dritter Lesung vom Parlament verabschiedet werden sollen. Doch einen Tag davor platzte die Ampel-Koalition – und alle bereits terminierten Gesetzesvorlagen wurden gecancelt.Nun soll in zwei Tagen, am 29.1.2025, endlich über diesen Antrag entschieden werden. Ein Termin, den wir uns merken sollten.
Nach diesen Vorbemerkungen möchte ich über die entsprechenden NS-Programme und diese große Opfergruppe informieren. Denn um ihrer angemessen gedenken zu können, benötigen wir nach wie vor Informationen, benötigen wir Fakten.
Erst vor wenigen Tagen konnten wir lesen, wie es um das Wissen der Verbrechen der Nazis bestellt ist. Wie viele jüngere Menschen den Begriff Holocaust nicht kennen und noch nie von Auschwitz gehört haben. Bei den Opfern, über die ich heute rede, trifft das in einem noch sehr viel stärkeren Maße zu. Am 14. Juli 1933 wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses verkündet. In § 1 hieß es:„Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.“
In den folgenden Paragrafen wird dann ausgeführt, dass die Sterilisation auch gegen den expliziten Willen des Betroffenen durchgeführt werden konnte.Das Gesetz basierte auf einer Gesetzesvorlage, die 1932 in den Preußischen Langtag eingebracht wurde. Führende deutsche Rassenhygieniker hatten daran mitgewirkt. Dennoch war es ihnen nicht gelungen, die zwangsweise Unfruchtbarmachung in diese Gesetzesvorlage zu integrieren. Es ist meiner Ansicht nach eminent wichtig klarzustellen, dass es unter demokratischen Verhältnissen in Deutschland keine Mehrheit für Zwangssterilisationen gegeben hätte.Dazu konnte es erst nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten kommen. Und dessen rühmten sie sich ja auch. Nun jedoch, nach der Ausschaltung jeglicher Opposition, dem Verbot aller anderen Parteien, wurde dieses Gesetzesvorhaben 1933 aufgegriffen und entscheidend verschärft. Mit der Unterscheidung zwischen „erbgesund“ und „erbkrank“, damit letztlich „lebenswert“ und „lebensunwert“, wurde ein Instrument eingeführt, das der aus Sicht der Nazis vorliegenden „Degeneration“ des deutschen Volkes entgegenwirken sollte. Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes war, wer an einer der folgenden Krankheiten litt:
1. angeborenem Schwachsinn
2. Schizophrenie
3. manisch-depressivem Irresein
4. erblicher Fallsucht
5. erblichem Veitstanz
6. erblicher Blindheit
7. erblicher Taubheit
8. schwerer erblicher körperlicher Mißbildung.
Ferner konnte unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus litt.Wichtig dabei: Bei keiner der angeführten Indikationen war der Erbgang überhaupt nachgewiesen. Bei keiner dieser Krankheiten konnte die „ärztliche Wissenschaft“ also den Beweis der Erblichkeit erbringen. Dennoch findet sich in den allermeisten der von mir eingesehenen über tausend Zwangssterilisierungsverfügungen gerade dieser Hinweis auf die „Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft“. Er wurde zu einer Art Standortformel, mit der die Richter das Urteil begründeten. Der Name des Gesetzes suggerierte, dass es ausschließlich erbkranke Menschen treffen sollte. Arthur Gütt, Ministerialdirektor im Reichsinnenministerium und einer der geistigen Väter dieses Gesetzes, erläuterte jedoch bereits in seiner Rundfunkrede vom 26. Juli 1933, wer im Sinne des Gesetzes darüber hinaus künftig als „erbkrank“ galt: etwa Hilfsschüler, Fürsorgeempfängerinnen, Langzeitarbeitslose(„Arbeitsscheue“) und „Asoziale“.Diese knapp 20-minütige Rede hat der SWR online gestellt.
Nachdem mit dieser Rede in aller Offenheit klargestellt wurde, wer zur „Aufartung“ des deutschen Volkes alles „ausgemerzt“ werden sollte, möchte ich Ihnen jetzt aufzeigen, wie dieses Programm vor Ort durchgeführt wurde.
Extra für das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses Gesetz wurden überall im deutschen Reich neue Sondergerichte gegründet: die Erbgesundheitsgerichte. Für die Bezirke der Amtsgerichte Konstanz, Radolfzell, Singen und Überlingen wurde das Amtsgericht Konstanz als Sitz bestimmt. Es tagte von 1934 bis 1944 im Gerichtsgebäude in der Robert-Wagner-Straße 12 (heute: Untere Laube). Es war eines von 18 Erbgesundheitsgerichten im Land Baden. 204 gab es reichsweit.Ein Amtsgerichtsrat führte den Vorsitz, als Beisitzer fungierten ein beamteter Arzt und ein weiterer mit der „Erbgesundheitslehre besonders vertrauter Arzt“. Hier entschieden hochangesehene Konstanzer Juristen und Ärzte – nicht Hitler oder eine kleine Clique in Berlin – über das Schicksal von Frauen, Männern und Kindern aus der Region.
Unter diesen Richtern befand sich beispielsweise Dr.Montfort aus Allensbach, der Vorsitzende des Konstanzer Ärztevereins. Er hatte bereits im März 1933 die „Arisierung“ der Ärzteschaft in Konstanz verkündet und danach alle jüdischen Ärzte des Ortes aus dem Verein ausgeschlossen. In diesem Gericht fiel die Entscheidung darüber, wer noch Kinder bekommen durfte, wer noch Familien gründen durfte. Der Einzelne galt nichts – der „gesunde Volkskörper“ alles. Es galt nicht mehr, den Patienten von einer Krankheit zu heilen – sondern den „Volkskörper“ von den Kranken zu befreien.
Die mit weitem Abstand meist diagnostizierten sogenannten „Erbkrankheiten“ waren „Schizophrenie“ und „angeborener Schwachsinn“. Wobei es keine definierte Abgrenzung zwischen (sterilisationspflichtigem) „Schwachsinn“ und (nicht sterilisationspflichtiger) „Dummheit“ oder „Einfältigkeit“ gab. Der Willkür war deshalb freien Lauf gelassen.Während des Verfahrens konnten sich nur die allerwenigsten der „Sterilisanden“ erlauben, sich anwaltlich unterstützen zu lassen. Sie waren den Richtern allein und völlig hilflos ausgeliefert. Sie durften auch später nicht über das Erlebte sprechen. Den betroffenen Opfern war bei Strafandrohung verboten, sich darüber jemals zu äußern. Die zentrale Rolle in der Durchsetzung des Sterilisationsgesetzes lag anfangs bei den jeweiligen Bezirksärzten. In Konstanz war dies Dr. Ferdinand Rechberg – der nach dem Ende des von ihm unterstützten NS-Regimes 1954 Leiter dieser Klinik wurde. Doch dazu später.Dr. Rechberg waren sämtliche „Verdachtsfälle“ zu melden; er war Adressat der Anzeigen.
Die Erbgesundheitsakten hatten stets den gleichen Aufbau:
Anzeige eines Verdachtsfalles,
Antrag auf Unfruchtbarmachung aufgrund eines amtsärztlichen Gutachtens,
Bei Diagnose „erblicher Schwachsinn“ der ausgefüllte sogenannte „Intelligenz-Fragebogen“
In manchen Fällen eine „Sippentafel“ der gesamten Familie
Beschluss des Erbgesundheitsgerichts,
ärztlicher Bericht über den Verlauf des chirurgischen Eingriffs.
In diesen Akten befinden sich aber manchmal auch geradezu herzzerreißende Briefe. Verzweifelte Versuche, das Urteil noch abwenden zu können. Da diese Briefe aber nicht den entsprechenden Formvorschriften entsprachen, wurden sie lediglich zu den Akten gelegt. Widerspruch konnte nur beim Erbgesundheitsobergericht in Karlsruhe eingelegt werden. ABer ohne anwaltliche Hilfe, ohne Gegengutachten, war dies fast unmöglich.
Rechberg war gnadenlos in der Durchsetzung jeder Verfügung. Sein akkurates Wiedervorlageverfahren war geradezu beispielhaft: War etwa eine „Sterilisandin“ so schwer krank, dass kein Arzt die Verantwortung für die Operation übernehmen wollte, hakte Rechberg in genau bestimmten Abständen immer wieder nach, ob die Voraussetzung für die Unfruchtbarmachung denn mittlerweile endlich gegeben sei. Und selbst wenn jemand versuchte, sich der Operation zu entziehen, ließ er reichsweit polizeilich nach ihnen fahnden.
Woher kamen nun diese Anzeigen?Allein im Berichtsjahr 1934 brachte Dr. Arthur Kuhn – der damalige Leiter dieser Klinik – 1.596 Menschen zur Anzeige. Sie alle galten ihm als „erbkrank“. Dr. Arthur Kuhn - am 1. Mai 1933 aus innerer Überzeugung in die NSDAP eingetreten – übernahm Anfang Juli 1933 die Leitung der Anstalt. Vorher war deren langjähriger Direktor Maximilian Thumm von den neuen Machthabern seines Amtes enthoben worden. Kuhn war ein vehementer Anhänger dieses Gesetzes. Völlig anders als andere badische Anstaltsleiter ließ er auch sämtliche seit Bestehen der Anstalt, also seit 1913, angelegten Krankengeschichten auf das Vorliegen derartiger Krankheiten überprüfen. „Dies war eine Leistung, die in Baden ihresgleichen suchte“, konstatierte Dr. Heinz Faulstich. An dieser Stelle ist ein Einschub wichtig:Was wir heute über die Ereignisse in dieser Klinik bis 1941 wissen, geht vor allem auf die grundlegenden Arbeiten von Dr. Heinz Faulstich (1927–2014) zurück, der hier in dieser Klinik als stellvertretender Direktor arbeitete. Ich habe seine Bücher vor vielen Jahren mit großem Interesse gelesen – und war später sehr erstaunt darüber, dass seine Forschung keinen Eingang in die Geschichte der Stadt Konstanz gefunden hat. Woran sich übrigens bis heute nichts geändert hat.
Der Erlass des Gesetzes wurde von einer groß angelegten Propagandaaktion begleitet.
Bereits 1934 wurde die Broschüre „Gesunde Eltern – gesunde Kinder“ in einer Auflage von 30 Millionen Exemplaren gedruckt und an alle Haushalte versandt.
Die Nationalsozialisten nutzten alle Propagandainstrumente,
um die gesamte Gesellschaft mit der Bedeutung der NS-Lehre
zu durchdringen:
Es gab Wanderausstellungen, die in vielen Städten gezeigt wurden und sich großer Beliebtheit erfreuten.
Das Propagandaministerium druckte in Millionenauflage Plakate und produzierte mehrere Propagandafilme.
Und in den Schulen wurde „Erb-und Rassenpflege“ zum Pflichtthema.
Meist wurde der jährliche Aufwand Deutschlands für Erbkranke in den Mittelpunkt gestellt.
Die Leistungsfähigkeit für die Volksgemeinschaft wurde zum Maßstab für Wert und Unwert des Lebens.
In dieser Propagandakampagne nahm das ärztliche Personal dieser Klinik unter Leitung von Dr. Kuhn eine besondere Rolle ein. Es übernahm für unsere Region die „erbbiologische Öffentlichkeits- und Aufklärungsarbeit“.
Hier im Festsaal, hier, wo ich jetzt stehe, hielten Dr. Kuhn und seine Kollegen Vorträge für Ärzte, für Lehrer, für diverse NS-Organisationen und für die SS.
So sprach etwa am 14. April 1934 Dr. Kuhn über angeborenen Schwachsinn, Dr. Kühne über manisch-depressives Irresein und Dr. Zwilling über Schizophrenie im Hinblick auf das Sterilisationsgesetz.
Auch fanden Führungen durch die Anstalt für die Konstanzer SS statt, bei denen Dr. Kuhn Vorträge über das Gesetz hielt.
Allein im Jahr 1936 fanden fünfundzwanzig derartige Führungen und Vorträge statt.
Faulstich: „Wenn bei den zahlreichen Führungen, die in allen Anstalten des Reichsgebiets zur Demonstration der ‚Folgen schlechter Erbanlagen‘ stattfanden, von Teilnehmern danach gefragt wurde, warum man diese Ballastexistenzen denn noch am Leben erhalte, galt der Zweck der Schulung als erreicht.“
Die intensive Propaganda-Arbeit der Ärzte der Heil- und Pflegeanstalt bei Konstanz war für die Region von großer, nicht zu unterschätzender Bedeutung. Denn die wahre Gefahr – darin war man sich einig – ging nicht von Anstaltsinsassen sondern von den „frei lebenden“ und dadurch besonders „fortpflanzungsgefährlichen Erbkranken“ aus. Ärzte, Sozialarbeiterinnen, Lehrerinnen und Lehrer hatten im Fall bestimmter „erblich bedingter“ Auffälligkeiten und Krankheitsbilder die Pflicht zur Anzeige beim Gesundheitsamt. Sie alle benötigten Schulungen. Und die lieferte das ärztliche Personal dieser Klinik.
So mussten etwa Leiter von Hilfsschulen zunächst alle Schulabgänger- und abgängerinnen, später auch alle früher Entlassenen dem Gesundheitsamt Konstanz melden. Die jungen Frauen und Männer wurden einzeln vorgeladen und mittels eines mehrseitigen „Intelligenzprüfungsbogens“ einer intensiven Befragung unterzogen. In diesem etwa 80 Fragen umfassenden Bogen wurde nach den Hauptstädten von Frankreich und England gefragt, nach der Bedeutung von Luther und Hus, warum es Tag und Nacht wird, wie oft eine Kuh pro Tag gemolken werden muss und auch die Staatsform wollte man wissen. Fragen, an denen noch heute so mancher scheitern würde.Die Ergebnisse dieser – unter Druck vorgenommenen – Befragung eingeschüchterter junger Menschen flossen je nach Belieben in das amtsärztliche Gutachten ein, das die Grundlage zur Feststellung von „erblichem Schwachsinn“ liefern sollte. In einem der Gutachten las ich beispielsweise: „Als Mitarbeiter des Führers kennt sie nur noch Göring.“ Grund genug, auf eine vermeintliche „Erbkrankheit“ zu schließen.
Um die „Erbgesundheit“ flächendeckend prüfen zu können, wurden in den staatlichen Gesundheitsämtern Abteilungen für „Erb- und Rassenpflege“ eingerichtet. Dort wurde zur „erbbiologischen Bestandsaufnahme“ eine sogenannte „Erbkartei“ angelegt. Der Nachweis der „Erbgesundheit“ war im Alltag unerlässig: Ohne ihren Nachweis wurde selbst die Wohnungssuche schwer. Es wurden auch keine Heiratsbewilligungen erteilt, keine Ehestandsdarlehn, Kinderbeihilfen, Ausbildungs- oder Winterhilfen bewilligt. Auch bei der Partnersuche war es anscheinend wichtig, auf die nachgewiesene Erbgesundheit hinzuweisen. Zwei Konstanzer Krankenhäuser hatten die Genehmigung, Zwangssterilisierungen vorzunehmen.Die Operationen von Mädchen und Frauen nahm in aller Regel der Chefarzt der Städtischen Frauenklinik in der Friedrichstraße 21, Dr. Kurt Welsch, vor. Im Städtischen Klinikum in der Luisenstraße wurden sowohl Männer als auch Frauen von Dr. Walter Hermann zwangsterilisiert.Ich habe bisher (Stand heute) weit über 700 Frauen, Männer und Jugendliche namentlich identifiziert, die in diesen beiden Kliniken zwangssterilisiert wurden. Und bei diesen weit über 700 Opfern handelt es sich lediglich um jene Menschen, die in Konstanzer Kliniken Opfer dieses Verbrechens wurden. Hinzu kommen – auf den gesamten Kreis bezogen – noch die Kliniken in Singen, Radolfzell, Stockach, Engen etc., in denen diese Eingriffe ebenfalls vorgenommen wurden.
Die Operationen kosteten übrigens bei Frauen 11 Mark, bei Männern 9 Mark. Die Verpflegungstagessätze variierten. Bei einem 14-tägigen Klinikaufenthalt war so mit Kosten von ungefähr 70 Mark zu rechnen. Diese Kosten übernahmen die Krankenkassen; bei Fürsorgempfängern die jeweiligen Fürsorgeämter. Waren die Betroffenen aber nicht krankenversichert – dies kam etwa bei Landwirten vor – und hatten auch keinen Anspruch auf Fürsorgeleistungen, mussten sie ihre „Unfruchtbarmachung“ selber zahlen!
Circa 5.000 Frauen und Männer überlebten diese Operation nicht.
Unter den Toten befanden sich übrigens auch Patienten dieser Anstalt. Nachdem ein 28-jähriger junger Patient im Dezember 1934 an den Folgen im Städtischen Klinikum starb, benachrichtigte Dr. Kuhn Dr. Rechberg von diesem Todesfall und endete mit den Worten: „Das Verfahren betreff der Unfruchtbarmachung hat somit seine Erledigung gefunden.“
Wer die Eingriffe überlebte, war während der Dauer des NS-Regimes gezwungen, darüber zu schweigen. Und danach hatten diese verstümmelten, ihrer Lebensperspektive beraubten Menschen keine Lobby. Sie waren zum teil schwer traumatisiert – und doch gab es niemanden, der sich für ihr Schicksal interessierte. Keine Verwandten, die sich für die Wiedergutmachung der begangenen Verbrechen einsetzten und damit an die Öffentlichkeit gingen. Ganz im Gegenteil: Das Stigma der „Erbkrankheit“ ließ auch die Angehörigen verstummen. Wenn eine Lüge, hier jene der vorgeblichen „Erbkrankheit“, nur oft genug wiederholt wird, prägt sie sich irgendwann ein.Deswegen gibt es nur sehr wenige Selbstzeugnisse dieser Opfer, wenige Beschreibungen ihrer Leiden.
Adam Göbel überlebte seine Zwangssterilisation und das NS-Regime – gab aber seine Tagebuchaufzeichnungen erst zur Veröffentlichung nach seinem Tod frei.
Er (1908 bis 2000) war Handwerker in St. Georgen im Schwarzwald und Mitglied der SPD. Als die politischen Parteien mit Beginn des Naziregimes verboten wurden, hat Adam Göbel gemeinsam mit anderen dafür gesorgt, dass die Parteizeitung „Vorwärts“ auf geheimen Wegen nach St. Georgen gelangte.
Er wurde verraten und musste eine Haftstrafe antreten. Diese Haft zerrüttete ihn seelisch.
Woraufhin er in die hiesige Anstalt verschleppt wurde.
Bereits zwei Wochen nach seiner Einlieferung stellte Direktor Kuhn den Antrag auf Unfruchtbarmachung beim Erbgesundheitsgericht Donaueschingen. Seine Diagnose lautete „Schizophrenie“.
Zwei Zitate aus dem Buch:
„Direktor Kuhn, Oberarzt Kühne, Assistenzarzt Gerwitz quälten mich jeden Tag mit dem Gerede, ich sei geisteskrank, ich höre Stimmen, ich höre lauten und müßte sterilisiert werden.“
„Kein Wort des guten Zuspruchs, kein Wort der Aufklärung. Stattdessen Spott - und die scherende Bewegung des Oberarztes Kühne mit den Fingern war nur eine der zynischen Gesten.“
Am 18. Dezember 1934 wurde Adam Göbel im Klinikum Konstanz sterilisiert.
Bereits vier Wochen nach der Operation wurde er aus der Heilanstalt als „geheilt“ entlassen.
So schnell also kann „Schizophrenie“ geheilt werden.
Lassen Sie mich, bevor ich gleich zum Thema „Euthanasie“ komme, kurz zusammenfassen:
„Es konnte jeden treffen“!Niemand, der kein strammer Nazi war, war vor der Gefahr der Zwangssterilisation sicher. Da war etwa die 41-jährige Professorenwitwe, die aufgrund von Erbstreitigkeiten zuerst entmündigt und danach zwangsweise sterilisiert wurde. Oder der 34-jährige Dentist, der zwar zur vollen Zufriedenheit seiner Kundinnen und Kunden arbeitete, aber dennoch wegen „erblicher Taubheit“ sterilisiert wurde. Menschen, deren einziges „Verbrechen“ es war, auf Sozialleistungen angewiesen zu sein oder Flugblätter der verbotenen SPD verteilt zu haben. Es wird höchste Zeit, die Opfer dieser Verbrechen endlich auch unter diesem Aspekt zu sehen.
In den Gebieten unter deutscher Herrschaft wurde vom Herbst 1939 bis zum Ende des NS-Regimes in mehreren Phasen ein „Euthanasie“-Programm vollzogen, das insgesamt etwa 300.000 Frauen, Männern und Kindern das Leben kostete.
Jahrelang waren sie vorher bereits stigmatisiert worden. Waren durch Propagandakampagnen zu „Ballastexistenzen“, zu „unnützen Essern“ geworden, die der „Volksgemeinschaft“ nur große Kosten verursachten. Im ersten Schritt waren sie mit dem Sterilisationsgesetz ihrer Möglichkeit beraubt worden, Familien zu gründen und Kinder zu bekommen. Dass es dabei aber nicht bleiben sollte, war von Anfang an klar. Entsprechende Pläne, zumindest Anstaltspatientinnen und –patienten zu ermorden, existierten früh. Wurden aber vom „Führer“ selbst immer wieder zurückgestellt: Er fürchtete den Protest der Öffentlichkeit. Deswegen sollte damit bis zum Beginn des Krieges gewartet werden. Dann wären, so die Idee, die Menschen durch andere Themen abgelenkt.
Aber auch dann nach Kriegsbeginn wurde das „Euthanasie“-Programm trotzdem in aller Heimlichkeit durchgeführt – nicht durch ein Gesetz begründet wie bei der Zwangssterilisation. Denn Mord war auch nach der damals gültigen Strafgesetzgebung ein zwingend zu ahndendes Kapitalverbrechen.
Ein kurzer privater Brief Hitlers – kein Gesetz und auch kein sogenannter „Führerbefehl“ – an den Leiter seiner Kanzlei Philipp Bouhler und seinen Arzt Dr. Brandt, war die einzige Grundlage für das sich anschließende Massenmorden.
Dieses kurze, private Schreiben besagte lediglich, dass diese beiden Männer jene Ärzte bestimmen durften, die unheilbar Kranken unter bestimmten Bedingungen den „Gnadentod“ gewähren dürfen.
Dieses Schreiben wurde nie veröffentlicht, hatte keinerlei Rechtskraft. Später beriefen sich die Täter dennoch darauf – sie hätten nicht anders handeln können, standen unter „Befehlsnotstand“.
Für die „Aktion T4“ – benannt nach der dafür eingerichteten Verwaltungszentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 – wurden die Anstalten in Grafeneck, Bernburg an der Saale, Hadamar in Hessen, Pirna-Sonnenstein in Sachsen, Hartheim bei Linz und das Zuchthaus Brandenburg zu Mordanstalten mit Gaskammern und Verbrennungsöfen umgebaut. Die Deportationen dorthin in den „Grauen Bussen“ wurden offiziell als „Verlegungen in andere Anstalten“ getarnt.
Am 18. Januar 1940 nahm die Mordanstalt Grafeneck mit der Vergasung von Patienten der bayerischen Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar ihren Betrieb auf.
Die Ermordung erfolgte durch Kohlenmonoxyd-Gas der IG Farben. Wie später in den Vernichtungslagern wie Auschwitz-Birkenau wurde den Menschen vorgegaukelt, sie würden lediglich zum Duschen geführt. Die Dauer der Zufuhr des Gases betrug in der Regel ca. 20 Minuten; sie wurde eingestellt, wenn sich im Vergasungsraum keine Bewegung mehr feststellen ließ. Über 70.000 Männer, Frauen und Kinder fielen allein der „Aktion T4“ zum Opfer. Darunter die 508 Männer, Frauen und Kinder, derer wir vorhin am Mahnmal gedacht haben. Sie wurden in insgesamt elf Transporten von hier aus ins Gas nach Grafeneck und Hadamar geschickt.
Die Konstanzer Stadtverwaltung war seit April 1940 über dieses Geschehen informiert. Am 3. April 1940 hatte Viktor Brack, einer der Hauptorganisatoren der „Aktion T4“, die in Berlin versammelten Oberbürgermeister des deutschen Gemeindetages leicht verklausuliert über die angelaufene Mordaktion unterrichtet. Auch die Ankunft vieler Urnen wurde ihnen bereits angekündigt. Bald darauf trafen auch in Konstanz die ersten sterblichen Überreste von Ermordeten ein. Ihre Heimat hatten sie im gesamten süddeutschen Raum und Vorarlberg.
Es lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren, wieviele Urnen insgesamt in Konstanz ankamen. Wir wissen auch nicht, wieviele Familie danach von der Stadtverwaltung über die Ankunft der Urne ihrer Angehörigen informiert wurden.
Was wir aber wissen, ist, wie mit den annähernd 200 Urnen umgegangen wurde, die nach dem Ende des Krieges in Konstanz verblieben:
Sie wurden in einem 6 Quadratmeter kleinen Kellerraum des Krematoriums des Hauptfriedhof gestapelt. Die Konstanzer Stadtverwaltung unter Oberbürgermeister Bruno Helmle kam 20 Jahre später zu dem Schluss, dass die Urnen im Friedhofsgebäude korrekt ‚bestattet‘ seien. Und der Anspruch auf Verständigung der Angehörigen sei mittlerweile verwirkt. Eine Kontaktaufnahme würde zudem lediglich „Aufsehen“ erregen. Deshalb wurde beschlossen, „die Urnen noch einige Zeit aufzubewahren, bis nach menschlichem Ermessen feststeht, dass Rückfragen von Angehörigen nicht zu erwarten sind“.
Erst bei Bauarbeiten im Krematorium im Oktober 1982 fielen die Urnen wieder auf. Ihr Verheimlichen über so viele Jahrzehnte löste nach dem Bekanntwerden im Januar 1983 einen – auch überregional wahrgenommenen – Skandal aus.
Die „Aktion T4“ ist die bekannteste der „Euthanasie-Aktionen“. Doch es gab viele weitere, die bis heute oft vergessen werden.
Da ist zum einen die Kinder-„Euthanasie“ zu nennen. Mit ihr wurden in eigens dafür eingerichteten über 30 „Kinderfachabteilungen“ behinderte Säuglinge und Kleinkinder ermordet.
Und auch für die Insassinnen und Insassen von Heilanstalten ging das Morden nach Beendigung der Aktion T4 weiter. Nun nicht mehr durch Vergasungen in zentralen Mordanstalten. Diese waren im August 1941 auf Hitlers Weisung eingestellt worden. Nun wurde direkt vor Ort in den jeweiligen Heilanstalten gemordet: Duch systematisches Duch systematisches Verhungernlassen, die Überdosierung von Medikamenten und die Verabreichung von Todesspritzen.
Dieses „dezentrale Morden“ erreichte eine Opferzahl, die die der „Aktion T4“ bei weitem überstieg.
Wieder zentral in den für die „Aktion T4“ errichteten Mordanstalten Pirna-Sonnenstein, Bernburg und Hartheim bei Linz erfolgte ab April 1941 die Vergasung von nicht mehr arbeitsfähigen KZ-Häftlingen. Im Zuge dieser „Aktion 14f13“ (auch: „Sonderbehandlung 14f13“) wurden schätzungsweise 15.000 bis 20.000 arbeitsunfähige und kranke KZ-Häftlinge vergast. Sie waren nicht länger ökonomisch ausbeutbar, damit „lebensunwert“.
Insgesamt wurden 300.000 Menschen im Rahmen dieser verschiedenn „Aktionen“ ermordet.
Der heutige Tag gehört dem Gedenken an die Opfer – die Auseinandersetzung mit den Tätern und ihrer Karrieren in der Nachkriegszeit würde diesen Rahmen sprengen.
Nur so viel dazu an dieser Stelle:
Wer die Akten des Erbgesundheitsgerichts Konstanz kennt und sie mit den Entnazifizierungsakten und den Spruchkammerentscheiden über die Täter vergleicht – erkennt sofort die systematisch vollzogene Täter-Opfer-Umkehr. Manche niedergelassene Ärzte, die ihre Patienten reihenweise angezeigt hatten, stellten sich hier als wahre Gegner des NS-Regimes dar. Und andere – wie Dr. Rechberg, Dr. Hermann und Dr. Welsch – sahen sich als Opfer: Untadelige, hochangesehene Ärzte, die völlig grundlos Ermittlungen unterworfen wurden. Sie hätten – so ihr Anwalt – das moralische Recht, von dieser unerträglichen Last befreit zu werden. Sie hätten sich schließlich nichts vorzuwerfen.
Und so geschah es dann ja auch sehr schnell. Bald gelangten alle wieder zu Amt und Würden.
Ende 1949 kehrte Dr. Kuhn an seine alte Wirkungsstätte zurück und übernahm die Leitung der gerade wiedereröffneten Anstalt bei Konstanz, die nun Psychiatrisches Landeskrankenhaus Reichenau (PLK) hieß.
Und Dr. Rechberg, der bereits seit 1950 in der Klinik angestellt war, wurde nach Kuhns Tod 1954 dessen Nachfolger.
Die gesellschaftliche Anerkennung, die Tätern wie ihnen in der Nachkriegszeit und bis in die 1980er-Jahre zuteil wurde, wirkt anscheinend bis heute nach.
Das hat bisher verschleiert, dass es sich bei den Opfern von Zwangssterilisation und „Euthanasie“-Verbrechen um die zahlenmäßig größte Opfergruppe in Konstanz handelt. Mindestens 319 Frauen, Männer und Kinder aus Konstanz sind Opfer von Zwangssterilisationen und „Euthanasie“-Verbrechen geworden.
Ich habe eingangs erwähnt, dass sie auch heute noch immer nicht rehabilitiert sind.
Manchmal liest man in dem Zusammenhang von der „vergessenen Opfergruppe“ – was aber verkehrt ist. Diese 700.000 Menschen wurden nicht einfach vergessen, sondern aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verdrängt.
Dieser zweiten Diskriminierung, diesem Verschweigen, wollen wir in Konstanz etwas entgegen setzen.
Aus diesem Grund haben wir auch die Ausstellung „Es konnte alle treffen“ konzipiert. Und zu deren Eröffnung hier im ZfP möchte auch ich Sie ganz herzlich einladen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Hier gelangen Sie zur PDF-Version und zu einer bebilderten Fassung (seemoz) der Rede: